Herzblut, Wissensdurst und Haltung: Worauf wir bei Bewerbern wirklich achten. Und warum wir ihre Papierform nicht auf die Goldwaage legen.
Ein Gastbeitrag von Patrick Borde, Palmer Hargreaves.
Das Studium? Abgebrochen, für ein Praktikum bei einem Musiklabel. Danach? Eine Ausbildung zur Kommunikationskauffrau bei einem TV-Sender. Erfahrung im zahlengetriebenen Projektmanagement? Überschaubar. Kenntnisse der gesuchten Kundenbranche? Keine. Agenturerfahrung? Null. Eigentlich passte die Kandidatin laut Papierform so gar nicht auf die freie Position im Account-Management, die wir im Sommer 2018 zu besetzen hatten. Doch schon nach wenigen Minuten unseres ersten Gesprächs – übrigens beim STELL-MICH-EIN 2018 – war ich überzeugt: Sie war die richtige Kandidatin. Weil sie mich mit jedem Satz mehr überzeugt hat – von ihren Vorstellungen, ihren Zielen, ihrem Drive. Zurecht: Seit neun Monaten ist sie Teil des Teams –ein Volltreffer.
Neugierig auf Quereinsteiger
Warum ich diese Anekdote erwähne? Weil sie nicht nur zeigt, worauf wir bei Palmer Hargreaves achten, wenn wir uns auf die Suche nach neuen Kollegen machen. Sondern auch, wie zeitgemäßes Recruiting meiner Meinung nach heute funktioniert. Denn ich bin davon überzeugt: Bewerber mit Herzblut und Wissensdurst, mit Empathie und „can-do“ Mentalität bereichern unser Team und die Agentur und garantieren unseren weiteren Erfolg am Markt. Menschen, die die Werte mitbringen, die wir für unsere Agentur im Kern definiert haben:
- Open minded – also neugierig, optimistisch, aufgeschlossen
- Open hearted – also kollegial, unprätentiös, wertschätzend
- Unternehmerisch – also eigeninitiativ, hungrig, ökonomisch
- Kundenzentriert – also dienstleistungsorientiert, beratungsstark, anpackend
- Qualitätsorientiert – also verantwortungsbewusst, kritikfähig, anspruchsvoll
Damit wir uns nicht falsch verstehen: Natürlich sind Kandidaten mit hervorragenden Abschlüssen renommierter Universitäten, hochdekorierte Kreative oder Kandidaten mit Top-Zeugnissen in der Regel ein Kennenlernen wert. Doch auch und gerade Quereinsteiger oder Kandidaten mit den sogenannten Lücken im Lebenslauf bringen gerade aufgrund ihrer unterschiedlichen Erfahrungen spannende Kompetenzen mit. Wir bewerten also Lebensläufe nicht als gut oder schlecht, im Gegenteil: Solche Punkte wecken unsere Neugier. Weil dieses Abweichen, das Abbiegen vom klassischen Karriereweg auch bei jüngeren Bewerbern immer üblicher wird. Und weil es sich oft lohnt, die Story dahinter zu entdecken.
Ein gut überlegter Schritt zur Seite nach einem stringent durchgezogenen Studium, eine wohl dosierte Auszeit nach vielen Jahren in einem aufreibenden Job. Oder die Lust, sich mit Verve auf eine ganz neue berufliche Herausforderung einzulassen, verraten oft viel mehr über einen Bewerber als der gradlinige, lückenlose Lebenslauf und das geschliffenste Motivationsschreiben.
Personaler als Perlenfischer
Kurz: Als Recruiter agieren wir wie Perlenfischer. Auf die Noten schauen? Kann jeder. Und führt oft in die Irre. Denn egal, ob sich Bewerber auf unsere Anzeigen oder aus eigenem Antrieb melden, ob ich auf Karriereplattformen wie Xing oder LinkedIn auf spannende Profile stoße oder auch mal auf digitale Hilfe zurückgreife –etwa die App Truffles, die Unternehmen und Kandidaten nach dem gleichen Wisch-Prinzip zusammenführt wie die Dating-App Tinder – genau das ist die Kunst zeitgemäßen Recruitings: Den Wald vor lauter Bäumen nicht aus dem Blick zu verlieren. Nicht in Schubladendenken zu verfallen. Sich nicht abhalten zu lassen vom Blick aufs Wesentliche – weder von exzellenten Abschlüssen und Zeugnissen noch von scheinbar fehlender Stringenz einer Vita. Sondern das Potenzial und die Chancen zu erkennen, die in Kandidaten wie der beschriebenen Bewerberin schlummern. Und ihre Schokoladenseiten zum Vorschein und zum Glänzen zu bringen. Darauf kommt es heute an, um im Recruiting – und damit als Unternehmen – in Zeiten des demographischen Wandels und zunehmenden Fachkräftemangels wettbewerbsfähig zu bleiben. Gerade Kollegen, die sich nicht auf den ersten Blick aufdrängen, können den Unterschied machen im Zusammenspiel mit dem Rest des Teams.
Meine Devise: Je diverser der Hintergrund einer Belegschaft, je individueller die Passform der Mitarbeiter jenseits formaler Anforderungen, desto besser die Performance eines Unternehmens. Nicht auf Titel, Noten oder Abschlüsse kommt es in erster Linie an. Auch Erfahrung und Fachwissen lassen sich in überschaubarer Zeit aufbauen. Was wirklich zählt, weil es intrinsisch angelegt sein muss und in keinem Seminar der Welt vermittelt werden kann: Haltung, Weitsicht, Power. Die Lust, sich immer wieder Neues anzueignen. Die Fähigkeit, für sich selbst einzustehen. Und die Bereitschaft, über sich hinauszuwachsen. Kurz: das Potenzial, das in einem steckt.
Auf die Mischung kommt es an
Mein Credo: Schau genau – denn auf die richtige Mischung kommt es an. Mich jedenfalls wundert es nicht, dass etwa Mitchell Baker, Leiterin der Mozilla Foundation, kürzlich in einem Gespräch mit dem Guardian beklagt hat, in den meisten Technologie-Unternehmen fehle es genau an dieser Vielfalt. Ihre Forderung: mehr Geisteswissenschaften integrieren. Zwar müssten auch künftig junge Menschen in Fächern wie Mathematik oder Informatik, Naturwissenschaften oder Technik ausgebildet werden. Gebraucht würden aber auch Menschen, die die gesellschaftlichen Folgen ihres Tuns im Blick hätten – wie es etwa auch Microsofts Chefjustiziar Brad Smith in dem Buch „The Future Computed“ empfiehlt.
Für ihre Aufgabe perfekt
Natürlich arbeiten auch bei uns klassische Betriebswirte in der Beratung, klassisch ausgebildete Journalisten und PR-Redakteure im Content Team und erfahrene, studierte Informatiker in der IT – ohne sie wären wir nicht arbeitsfähig. Aber eben auch junge Kollegen zum Beispiel in der Kreation, die sich vom Hauptschulabschluss bis zum Studium durchgekämpft haben. Oder Umsteiger, die nach einer kaufmännischen Ausbildung den sicheren, aber öden Job in der Kommunikationsabteilung einer Städtischen Einrichtung gegen einen spannenden Texterjob in unserer Agentur tauschen, weil sie sich ein energiegeladenes Umfeld wünschen und eine neue Herausforderung suchen. Oder Ehemalige, die nach Erfahrungen bei anderen Arbeitgebern ganz bewusst zu uns zurückkommen wollen. Und denen wir, wenn es für beide Seiten passt, gern die Tür für ein Comeback öffnen.
Potenzial statt Papierform
Was all diese Biographien gemeinsam haben? Dass dahinter immer ein Mensch steckt, der uns von seinem Potenzial überzeugt hat – ob jemand mit Leidenschaft und Ideenreichtum bei der Sache ist und sein Potenzial auch zügig auf die Straße bringt, kann ich in einem intensiven, persönlichen Gespräch schnell erkennen.
Warum ich darauf so großen Wert lege? Sicher auch, weil ich selbst immer wieder von dieser Haltung profitiere. Und am eigenen Leib erfahren habe, wie wichtig Offenheit, Lernfähigkeit und Leidenschaft sind, um sein Potenzial voll auszuschöpfen. Wie sonst wird jemand mit meiner Vita zum leidenschaftlichen, erfolgreichen Personaler in einer Kommunikationsagentur? Eben.